Transnationale Organisierung – Grenzen, Herausforderungen und Perspektiven
Ein Gespräch zwischen Aktivist:innen von Precarious Disconnection in Bologna/Italien – aktiv in der Plattform für einen Transnationalen Sozialen Streik (TSS) – und von kein mensch ist illegal in Hanau/Deutschland – aktiv im transnationalen Netzwerk Alarm Phone (AP)
Die Idee für das folgende Gespräch und diesen Austausch ist entstanden, als sich Mitglieder der beiden genannten Gruppen in den Jahren 2023 und 2024 einige Male getroffen haben. Sie stellten fest, dass sie in zwei sehr unterschiedlichen transnationalen Netzwerken aktiv sind, aber immer wieder vor ähnlichen Herausforderungen stehen und ähnliche Ansätze verfolgen.
Beide Gruppen haben eine lange Tradition in der transnationalen Organisierung und waren bereits zwischen 2003 und 2009 gemeinsam im Frassanito-Netzwerk aktiv. In dieser Zeit unterstützten sie bereits die Kämpfe und Autonomien der Migration gegen das rassistische Ausbeutungs- und Grenzregime der EU (*1). Später, im Jahr 2013, waren beide Gruppen an den Blockupy-Mobilisierungen und -Treffen beteiligt (*2). Beide Gruppen beschäftigen sich kontinuierlich mit Perspektiven globaler sozialer Kämpfe und setzen dabei einen Schwerpunkt auf die Bewegungen der Migration. Beide sind davon überzeugt, dass es transnationaler Organisierung bedarf, um das System herauszufordern und zu versuchen, es zu überwinden. Zur Strukturierung des Gesprächs und um zentrale Erfahrungen und Erwartungen anzusprechen, haben sie die folgenden neun Fragen formuliert.
- siehe den transnationalen Newsletter von Frassanito: „crossing borders“, hier archiviert: http://www.noborder.org/crossing_borders/
- https://en.wikipedia.org/wiki/Blockupy_movement#
– (1) Ihr bewegt Euch kontinuierlich in transnationalen Netzwerken, beide – sowohl TSS als auch AP – mit einer Geschichte von etwa 10 Jahren. Was wäre Eure positive Vision nach weiteren 10 Jahren? Wo wollt Ihr 2034 stehen? Mit TSS auf einer höheren Ebene von gleichzeitigen Streiks? Mit AP in selbstorganisierten Fähren gegen Frontex?
Precarious Disconnections (P.D.): Zehn Jahre sind eine sehr lange Zeit, wenn wir sie aus politischer Sicht betrachten. Aber dann wird durch die Frage deutlich, dass seit dem Beginn der TSS-Initiative bereits zehn Jahre vergangen sind. Die Vorstellung von der Zukunft muss sich also der Tatsache stellen, dass die Kontinuität politischer Initiativen eine ständige Herausforderung darstellt. Es ist schwierig, Erwartungen zu formulieren, wenn sich die Dinge um uns herum so schnell verändern. Von Anfang an bestand das Ziel des TSS darin, Ereignisse, die ebenso wichtig wie unzusammenhängend waren – einzelne Streiks in den Betrieben, wie der Kampf in den Fast-Food-Restaurants in den USA für einen Mindestlohn, Kämpfe von Migrant:innen, nationale Proteste wie der gegen das Loi travail in Frankreich – als Teile einer transnationalen „Streikbewegung“ zu lesen. Dieser Versuch fiel zunächst mit einer Neudefinition des Streiks zusammen, die über die traditionelle Vorstellung einer Produktionsunterbrechung hinausging, die oft von den Gewerkschaften monopolisiert wurde. Als soziale und transnationale Bewegung wurde der Streik für uns auch zum Synonym einer kollektiven Fähigkeit, die sozialen und politischen Bedingungen der Ausbeutung zu verweigern. Infolgedessen wies die Streikbewegung auf die Notwendigkeit hin, die politische Infrastruktur, d. h. die Organisierung zu realisieren, die erforderlich ist, um sie über spezifische Ereignisse hinaus zu unterstützen und zu fördern. Wenn wir also gefragt werden, wie wir uns die Zukunft vorstellen, denken wir nicht so sehr an eine riesige koordinierte Aktion. Vielmehr geht es uns um die Verbesserung und Verstetigung einer Organisierung, die es uns ermöglicht, sowohl auf rasche Veränderungen vorbereitet zu sein und sie in Chancen umzuwandeln als auch die subversive Kraft sozialer Bewegungen zu bestärken, die sonst Gefahr laufen, sich aufzulösen, wenn einzelne Mobilisierungen zu Ende gehen.
no one is illegal/Hanau (noii): Ja, jetzt im Oktober 2024 ist das Alarm Phone zehn Jahre alt geworden und es ist immer noch eine unglaubliche Geschichte. Ein Beispiel: Als wir im Oktober 2014 begannen, taten wir dies hauptsächlich in Bezug auf die Situation im zentralen Mittelmeerraum. Aber wir konnten uns nicht vorstellen, dass unsere Hotline auch in der Ägäis zum Einsatz kommen könnte, da diese bereits zu dieser Zeit von permanenten Push-Backs durch die griechische Küstenwache geprägt war. Aber im Jahr 2015 änderte sich die Situation völlig und die Migrationsbewegungen überrannten die See- und Landgrenzen. Sie öffneten Schritt für Schritt die Balkanroute und es geschah völlig unerwartet, was wir als Sommer der Migration bezeichnen. Das Alarm Phone erhielt daraufhin – in Kontakt mit syrischen, irakischen und afghanischen Communities on the Move – Hunderte von Anrufen und konnte diese Autonomien der Migration bestmöglich unterstützen. Was wir sagen wollen und was wir 2015 erneut gelernt haben: Die Dynamik sozialer Bewegungen kann eine scheinbar „stabile“ repressive Situation in wenigen Wochen oder Monaten herausfordern und verändern. Von 2016 bis heute müssen wir ein ständiges Rollback erleben, mit einer unerträglichen „Normalisierung“ des Sterbens auf See und einer Brutalisierung des Pull- und Pushback-Regimes. Aber wir sollten nie ausschließen, dass es wieder zu Gegenentwicklungen kommt. Unser Traum für 2034 ist daher natürlich ein weiterer und langfristigerer Durchbruch und Widerstand gegen das Grenz- und Visaregime der EU – mit „Fähren statt Frontex“ als realisiertem Slogan, um sichere Passagen zu gewährleisten und das Sterben auf See zu beenden. Gleichzeitig wissen wir, dass dies nur als Teil eines umfassenderen Zyklus von Kämpfen für globale Gerechtigkeit möglich sein wird.
(2) Kommen wir zurück in die Gegenwart. Wie analysiert Ihr – kurz und knapp – die multiplen Krisen und Angriffe, aber auch die globalen Kämpfe? Was sind die größten Herausforderungen und was sind Eure Interventionsschwerpunkte in einem kurz- und mittelfristigen Horizont?
P.D.: Viele sprechen heute von multiplen Krisen, „Policrisis“ ist das neue Wort dafür. Diese Denkweise neigt jedoch dazu, die Fragmentierung zu reproduzieren. Es gibt nur eine Krise, nämlich die Krise des neoliberalen Kapitalismus. Mehrere Prozesse haben diese Krise ausgelöst: von Finanzkrisen bis hin zur Covid-19-Pandemie, aber auch Kämpfe, die die Machtverhältnisse, auf denen die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft beruht, radikal in Frage gestellt haben. Um nur einige Beispiele zu nennen: der sogenannte „Migrant:innen-Ansturm“ von 2015, als Millionen von Migrant:innen aus Syrien und dem Nahen Osten „mit den Füßen“ in den Streik traten und sich schlichtweg weigerten, das durch Ausbeutung und Krieg verursachte Elend zu ertragen und damit die politischen Institutionen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene ins Wanken brachten; oder der weltweite feministische Streik gegen patriarchale Gewalt, der eine Vielzahl von Kämpfen für sexuelle Freiheit und Befreiung von Gewalt und Ausbeutung befördert hat und der auch etwas erreichen konnte, wie das Recht auf Abtreibung in Argentinien und Irland … Diese Bewegungen haben dazu beigetragen, die Krise des neoliberalen Kapitalismus zu entfachen, der in seiner Struktur rassistisch und patriarchalisch ist. In gewisser Weise ist der Krieg – nicht nur der spezifische Krieg in der Ukraine oder der spezifische Krieg in Palästina und im Libanon, sondern der Dritte Weltkrieg, d. h. die weltweite Ausweitung der Kriegslogik auf alle Aspekte unseres Lebens – ein Symptom und eine Reaktion auf diese Krise. Die Angriffe auf diejenigen, an deren Seite wir stehen, werden als Folge dieses Dritten Weltkriegs verstärkt: Zunahme des Rassismus, Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen überall, Verschärfung reaktionärer Politiken und politischer Diskurse, Aufgabe grüner Transformationsplanungen. Wir müssen weiterhin Tag für Tag gegen all dies vorgehen, um die Kämpfe von Migrant:innen, Frauen, LGBTQ+-Personen und Arbeiter:innen über die Grenzen hinweg miteinander zu verbinden. Um dies zu erreichen, müssen wir uns auch mit dem grundsätzlichen politischen Problem des Fehlens einer transnationalen Bewegung gegen den Krieg auseinandersetzen – die wir dringend brauchen. Mittelfristig wird der Krieg nicht enden. Das bedeutet nicht nur, dass eine starke Bewegung für einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine, in Palästina und im Libanon notwendig ist, sondern auch, dass wir die Bedingungen für das schaffen müssen, was die „Permanent Assembly against the War“ (PAAW) als „eine transnationale Politik des Friedens“ bezeichnet hat, um den Dynamiken des Krieges – mit den verschärften Spaltungen und mit immer weniger Handlungsspielräumen – entgegenzuwirken. Dies ist und bleibt ein entscheidender Bereich unserer Initiative.
Noii: Kämpfe und Krisen, die Frage nach Henne oder Ei … wir sind uns zumindest einig, dass wir es als Wechselspiel verstehen sollten. Wenn wir die Migration betrachten, sehen wir darin beides: die Folgen der kolonialen und kapitalistischen Zerstörung, aber auch eine Bewegung der Wiederaneignung, eine Globalisierung von unten. Mit Blick auf das moderne Grenz- und Visaregime: Es entwickelte sich offensichtlich als Antwort und Versuch, die Autonomien der Migration, die das System der Hierarchien und Ungleichheit in Frage stellte und immer noch stellt, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das Sterben auf See, die Brutalisierung an den Grenzen und deren Vorverlagerung sind insofern als Reaktionen zu verstehen. Es ist eine Abschreckungspolitik, die um jeden Preis die Grenzen als Filter für das bestehende Ausbeutungsgefälle erhalten will. Rassismus dient als Strategie der Spannung, als entscheidendes Element des Teilens und Herrschens. Neokoloniale Strukturen, die mit Rassismen verflochten sind, sollen ein System offensichtlicher globaler Ungerechtigkeit aufrechterhalten und rechtfertigen. Kriege, Ausbeutung und Armut, die globalen Produktions- und Reproduktionsketten, Klassen, Geschlechter oder der Klimawandel – die Bewegungen der Flucht und Migration tragen die verschiedenen Krisen in sich und durchziehen alle Konflikte. Für uns gewinnen die Kämpfe für Bewegungsfreiheit daher eine strategische Bedeutung: indem sie die Grenzen selbst untergraben und überwinden und gleiche Rechte fordern, aber auch durch Rücküberweisungen als Umverteilung von Reichtum. Nicht zuletzt setzen wir auf die transnationalen Netzwerke, die wir in diesen Kämpfen zwischen Süd und Nord aufbauen, um mit dünnen Fäden zur Schaffung neuer Beziehungen beizutragen, die darauf abzielen, das System der globalen Apartheid in Frage zu stellen und zu überwinden.
– (3) Was sind Eurer Meinung nach die größten Hindernisse für eine stärkere transnationale Organisierung? Wie geht Ihr mit der Ungleichzeitigkeit von Kämpfen um? Mit den Unterschieden und den globalen Hierarchien der Lebens- und Kampfbedingungen? Wie können wir diese angehen und versuchen, sie zu überwinden?
P.D.: Es gibt heute zwei Hindernisse auf dem Weg zu einer stärkeren transnationalen Organisierung:zum einen die lokale gegen die transnationale Organisierung zu stellen und zum anderen zu glauben, dass es einen Gegensatz zwischen der Schaffung eines gemeinsamen politischen Diskurses und einer politischen Initiative oder Aktion gibt. Das erstgenannte Problem hängt einerseits von den Unterschieden in unseren Lebens-, Arbeits- und Kampfbedingungen ab, die sich von Land zu Land ändern: unterschiedliche Grade der Prekarität, unterschiedliche Arbeitsbeziehungen und Lohndifferenzen, unterschiedliche Verfügbarkeit von Sozialleistungen und sexuellen Freiheiten, unterschiedliche Migrationsgesetze und so weiter. Andererseits hängt dieser falsche Gegensatz zwischen lokaler und transnationaler Organisation auch von den Gewohnheiten organisierter Gruppen und Bewegungen ab, die ihr tägliches Handeln darauf ausrichten, ihre eigene Existenz als organisierte Gruppen und Bewegungen unverändert aufrecht zu erhalten. Die zweite Einschränkung betrifft die Frage, was wir unter politischer „Initiative“ verstehen. Wir können natürlich einen transnationalen Aktionstag organisieren – wie wir es beispielsweise getan haben, indem wir am 1. März Migrant:innenstreiks unterstützt und organisiert oder indem wir am 1. Mai 2022 eine „Streik den Krieg“-Kampagne gestartet haben. Die wichtigsten Bewegungen der letzten Jahre wurden jedoch nicht „von uns“ organisiert, sondern sind plötzlich entstanden. Die unmittelbaren Gründe für deren Entstehung – ein von der Polizei getöteter Schwarzer im Fall von Black Lives Matter, ein Gesetz zum Verbot von Abtreibungen im Fall des Frauenstreiks in Polen oder ein Femizid im Fall des jüngsten Streiks von Krankenschwestern und Ärzt:innen in Indien – sind sowohl zufällig entstanden als auch Teil struktureller Bedingungen: Rassismus und Patriarchat. Ein strategischer Diskurs, der sich auf diese strukturellen Bedingungen konzentriert, ist auch der erste Schritt, um Teil einer echten Bewegung zu werden, die in der Lage ist, die Organisierung zu fördern, indem sie beispielsweise die Beziehung zwischen Rassismus, Patriarchat und der gegenwärtigen Umstrukturierung des neoliberalen Kapitalismus in Kriegszeiten hervorhebt. Ohne diese Art von Organisierung und die konsolidierte Fähigkeit, Verbindungen zwischen verschiedenen Bedingungen und Kämpfen herzustellen, schwindet die Macht dieser Bewegungen, wie es bei Klimabewegungen und -demonstrationen sehr deutlich wird: Sie können viele Menschen um ein bestimmtes lokales oder auch allgemeines Problem versammeln, aber es mangelt ihnen an Kontinuität und Ausweitung. Daher ist ein gemeinsamer politischer Diskurs für Mobilisierungen und für jede Art von transnationaler Initiative notwendig, um Kontinuität und die Fähigkeit zur Konsolidierung einer politischen Kraft zu gewährleisten. Das bedeutet auch, dass wir nicht vermeiden können, uns unseren Differenzen zu stellen. In Italien gibt es beispielsweise einen anhaltende Auseinandersetzung über die Zukunft eines Unternehmens von Stellantis in Turin. Der Streit dreht sich um die Produktion von Elektroautos, und die Bosse fordern öffentliche Mittel, indem sie damit drohen, die Produktion nach Polen zu verlagern. Hier gibt es keine nationale oder lokale Lösung. Darüber hinaus basiert der rasche Abbau des öffentlichen Wohlstands zunehmend auf der Verfügbarkeit von Arbeitsmigrant:innen, hauptsächlich Frauen. Sie sind aufgrund der Erpressung durch die Aufenthaltserlaubnisse – ohne die ihnen die Abschiebung in ihre Herkunftsländer oder in ein „Drittland“ droht – gezwungen, jeden Lohn und jede Arbeitsbedingung zu akzeptieren. In dieser Situation reicht kein nationaler Ansatz aus. Heutzutage gibt es keine lokalen Auseinandersetzungen und Kämpfe, die nicht von transnationalen Einflüssen durchzogen sind. Unser Ziel sollte es sein, diese materiellen transnationalen Verbindungen in Organisierungsprozesse umzuwandeln, wobei wir die Unterschiede als zentrale Bedingung der transnationalen Herausforderung, mit der wir konfrontiert sind, wahrnehmen müssen.
Noii:Ja, in dieser Welt der Hierarchien und Ungleichheiten sind wir mit sehr unterschiedlichen Bedingungen konfrontiert und auch die Zyklen des Widerstands und der Kämpfe variieren in Zeit und Dynamik. Daher wird ein vereinfachtes Konzept gemeinsamer oder sogar gleichzeitiger Kämpfe nicht funktionieren. Wir haben es bereits erlebt, als wir zu gemeinsamen Aktionstagen mit der gescheiterten – weil sehr statischen – Erwartung aufgerufen haben, Schritt für Schritt einen stärkeren Kampf mit immer mehr Gruppen und Städten zu organisieren. Stattdessen denken wir, dass wir auf gegenseitige Inspiration und gegenseitiges Lernen setzen sollten. 1997 haben wir das bundesweite Netzwerk „kein mensch ist illegal“ in Anlehnung an und in Reflexion auf die beeindruckenden Kämpfe der Sans Papiers in Paris gegründet. Wir konnten starke Kampagnen gegen Illegalisierung und Abschiebungen aufbauen, wohl wissend, dass wir die Dynamik aus Frankreich nicht kopieren können. 20 Jahre später, zwischen 2016 und 2019, konnten wir mit dem neuen Bündnis We’ll Come United Zehntausende auf die Straße bringen, in der Folge des Sommers der Migration und in Opposition zu dem anhaltenden Rollback. Es war ein großartiger Zyklus von drei Jahren, aber Kraft und Dynamik konnten nicht längerfristig aufrechterhalten werden, als sich die Bedingungen erneut änderten. Da wir von der Bedeutung kollektiver Erinnerungen überzeugt sind, konnten wir zumindest grundlegende Strukturen und wichtige Erfahrungen bewahren, auf denen wir in den nächsten Zyklen von Kämpfen aufbauen können.
– (4) Wie nehmt Ihr soziale Kämpfe und Eure Rolle als politische Gruppe und transnationales Netzwerk wahr? Welche Art von Kämpfen ist für Euch am wichtigsten? Wie steht Ihr zu sichtbaren und unsichtbaren täglichen Widerstandspraktiken?
P.D.: In den letzten Jahren haben wir versucht, die vielfältigen „sozialen Streiks“, die stattgefunden haben, sichtbar zu machen und die Möglichkeit aufzuzeigen, sich jenseits und gegen die sich verschlechternden materiellen Bedingungen zu organisieren. Während viele europäische Bewegungen und Netzwerke auf das „Herz der Bestie“ abzielten, d. h. auf das finanzielle Zentrum der Europäischen Union, das durch die Europäische Zentralbank in Frankfurt symbolisiert wird, organisierten wir das erste Treffen des TSS in Polen, wo es an den Knotenpunkten der transnationalen Produktionsketten viele Arbeitskämpfe gab. Wir konnten die strategische Bedeutung vorwegnehmen, die Polen und der Osten heute spielen, nicht so sehr in geopolitischer Hinsicht, sondern für die transnationale Organisation von Produktion und Reproduktion in Kriegszeiten. Während des Covid-19-Notstands, als systemrelevante Arbeitskräfte, hauptsächlich Frauen und Migrant:innen, gegen die tödliche Ausbeutung, die durch die Pandemie noch verschärft wurde, kämpften und streikten, gründete der TSS ein Netzwerk namens E.A.S.T. – Essential autonomous struggles transnational – um diese Kämpfe miteinander zu vernetzen und sichtbar zu machen. Es geht nicht so sehr darum zu fragen, welche Kämpfe „wichtiger“ sind. Es geht darum, dass einige Kämpfe das Potenzial haben, zu „Verbindern“ vieler alltäglicher Kämpfe und lokaler Praktiken zu werden, die – obwohl sie wichtig für die Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen sind – sonst Gefahr laufen, isoliert und fragmentiert zu bleiben. Es geht darum, diese Verbindung zu einem politischen Projekt zu machen. Aus diesem Grund haben Migrant:innenkollektive und antirassistische Aktivist:innen in ganz Europa und darüber hinaus im Rahmen der TSS-Plattform die Transnational Migrants Coordination (TMC) aufgebaut: einen Raum mit dem Ziel, die verschiedenen Kämpfe gegen Rassismus und Ausbeutung, die innerhalb Europas, an seinen Grenzen und darüber hinaus stattfinden, zu verbinden.
Noii:Mit Alarm Phone beziehen wir uns auf das Bild der Underground-Railroad, den verborgenen abolitionistischen Kämpfen gegen die Sklaverei. Migrationsbewegungen sind in erster Linie alltägliche, unsichtbare soziale Kämpfe, die das Grenzregime untergraben. Als 2006 in den USA riesige Demonstrationen von Migrant:innen gegen neue repressive Gesetze stattfanden, bezeichneten einige Freund:innen in Los Angeles dies als „einen schlafenden Riesen, der erwacht ist“. Der historische „March of Hope“ im September 2015 in Ungarn, der dann zu einigen Monaten der Bewegungsfreiheit auf der Balkan-Route führte, war „nur“ der sichtbare Höhepunkt eines eher versteckten Kampfes in den Monaten zuvor. Und im vergangenen Jahr 2023 im zentralen Mittelmeerraum: trotz und gegen eine postfaschistische Meloni-Regierung schafften es mehr als 150.000 People on the Move von Tunesien oder Libyen nach Europa – eine Rekordzahl. Ähnlich in Deutschland: trotz und gegen die zunehmenden rassistischen Diskurse und neuen repressiven Gesetze wurden im Jahr 2023 mehr als 330.000 neue Asylsuchende registriert, ebenfalls eine der höchsten Zahlen in der Geschichte Deutschlands. Diese Kluften zwischen offizieller Politik und sozialer Realität müssen als stille, aber erfolgreiche Autonomien und Hartnäckigkeiten von Migrationsbewegungen interpretiert und anerkannt werden.
– (5) Hofft Ihr, mit Mobilisierungen und Veranstaltungen eine eigene Dynamik zu schaffen? Oder seht Ihr Euch eher in einer „Warteposition“, um Euch auf neue Zyklen autonomer und spontaner sozialer Kämpfe vorzubereiten und dann zu versuchen, mit transnationalen Strukturen in diese einzugreifen?
P.D.: Das hängt mit dem zusammen, was wir bereits gesagt haben. Sich auf neue Zyklen von Kämpfen vorzubereiten, ist jedoch keine Warteposition. Es ist die aktive Arbeit der Antizipation, die Schaffung einer politischen Kommunikation zwischen Aktivist:innen, Kollektiven und (Basis-)Gewerkschaften, die bereit sind, eine transnationale politische Infrastruktur zu schaffen, ausgehend von der Erkenntnis ihrer Begrenztheiten und der Dringlichkeit, dass etwas mehr benötigt wird, als das, was wir bereits bieten können.
Noii: Wir – sagen wir als politische Bewegung – haben allen Grund, bescheiden zu sein und unsere Grenzen zu kennen. Wir können soziale Kämpfe verstärken, indem wir diese mit Interventionen unterstützen und – wie wir es nennen – Infrastrukturen für die Bewegungsfreiheit aufbauen. Wir stimmen den Freund:innen von PD zu, dass wir versuchen können und sollten, als eine Art Botschafter:innen Verbindungen zu katalysieren und transnationale Netzwerke aufzubauen. Aber wir sollten uns nicht einbilden, neue Dynamiken und Zyklen von Kämpfen schaffen zu können. Mit Blick auf den (großen) Sommer der Migration 2015 oder auch den (kleinen) Sommer der Migration 2023 war unser Beitrag zur Unterstützung in keiner Weise entscheidend. Wir konnten und sollten so gut wie möglich begleiten – was wir in beiden Fällen auch taten –, aber wir sollten die Autonomien anerkennen und respektieren. Dies gilt umso mehr für 2011 und die Arabellion, die sich wenige Wochen zuvor niemand in der politischen Sphäre vorstellen konnte und die dann – innerhalb weniger Wochen – alles Mögliche veränderte und – in Bezug auf Migration – auch das externalisierte Grenzregime zusammenbrechen ließ. Ja, „Warteposition“ klingt viel zu passiv, und wir würden formulieren, dass wir versuchen, uns in umkämpften Räumen zu bewegen und zu unterstützen.
— (6) TSS hat eher eine Praxis von Treffen, dezentralen Mobilisierungen und der Schaffung von Narrativen sowie der Verbindung von Kämpfen durch Statements mit einem ganzheitlichen Ansatz. Die Praxis von AP ist gekennzeichnet und unmittelbar verbunden durch eine gemeinsame Hotline mit täglichen Interventionen für People on the Move, die auf Infrastrukturen für Bewegungsfreiheit zielen. Wo seht Ihr die jeweiligen Vorteile, aber auch Grenzen?
P.D.: AP ist eine großartige Erfahrung, die in der Lage ist, das europäische Migrationsmanagement und das Grenzregime herauszufordern. Dies ist von unschätzbarem Wert für Hunderttausende von Migrant:innen, die ihre Bewegungsfreiheit durchzusetzen versuchen. TSS verfolgt eine etwas andere Strategie und konzentriert sich mehr auf die Verbindung von Kämpfen als auf ein einzelnes Thema wie die Rettung von Migrant:innen. Tatsächlich müssen Migrant:innen auf ihrem Weg in die Freiheit zahlreiche Hindernisse überwinden. Diejenigen, die es schließlich schaffen, nach Europa einzureisen, müssen sich nicht nur dem Albtraum des Dublin-Regimes und des „Aufnahmesystems“ stellen, sondern sie werden auch gezwungen, sich in eine verfügbare Arbeitskraft zu verwandeln, die für die Produktion und Reproduktion von zentraler Bedeutung, aber aufgrund ihres spezifischen Rechtsstatus auch isoliert ist. Dies wirkt sich auch auf die Fähigkeit aus, Kämpfe am Arbeitsplatz zu organisieren – sei es auf den Farmen und Feldern, in der Autoindustrie, in der Logistik oder in der Pflege. TSS kann also nicht wie AP auf unmittelbare Ergebnisse setzen, während AP hauptsächlich danach strebt, Migrant:innen sofortige Unterstützung zu bieten und Sand ins Getriebe des Grenzregime zu streuen, ohne unbedingt ein umfassenderes Projekt politischer Verbindungen zu verfolgen. Was wir gemeinsam haben, ist sicherlich die Anerkennung der politischen Zentralität der Migrationsbewegungen und die Notwendigkeit, gegen Rassismus und Ausbeutung zu kämpfen.
Noii: AP ist für uns immer noch ein kleines Wunder in Bezug auf Kontinuität, Verbindlichkeit und Effektivität in der Geschichte von noborder. Offensichtlich war es möglich – verbunden durch eine gemeinsame Hotline mit der klaren Aufgabe, Menschen auf See zu begleiten und zu unterstützen – ein nachhaltiges Netzwerk auf einer sehr dezentralen Ebene, aber mit einer gemeinsamen Praxis zu schaffen. Innerhalb der letzten zehn Jahre haben wir eine sehr komplexe Struktur entwickelt und – was am wichtigsten ist – wir konnten das Vertrauen vieler Migrant Communities gewinnen. Diese Art der Vernetzung und der täglichen Kontakte mit den Migrationsbewegungen sind eine große Stärke. Da wir auf operativer Ebene so viele Dinge lernen und weiter entwickeln müssen und weil wir täglich in so viele Mikrokämpfe verwickelt sind, laufen wir Gefahr, die politische Ebene zu vernachlässigen. Unser gemeinsamer Rahmen ist natürlich noborder und die Forderung nach Bewegungsfreiheit. Aber tiefere Diskussionen über die Narrative im Migrationsdiskurs oder sogar über die Verknüpfung unseres Kampfes mit anderen sozialen Kämpfen geraten oft in den Hintergrund. Das ist nicht selten ein Kapazitätsproblem, aber insofern können wir vom TSS lernen. Zumindest ist AP sehr engagiert in der Organisation des Transborder Sommer Camps, das im Sommer 2025 zum dritten Mal stattfinden wird und in dem wir versuchen, eigene Räume für vertiefende und themenübergreifende Diskussionen zu schaffen.
– (7) Lasst uns über Eure jeweiligen internen Strukturen sprechen. Wie teilt Ihr die Arbeit auf, wie ist Euer Netzwerk aufgebaut? Wie geht Ihr mit Entscheidungsprozessen, Verantwortlichkeiten und Fluktuationen um? Was wird in zentralen, was in dezentraleren Strukturen organisiert? Ist das ein Konfliktbereich?
P.D.: Die TSS hat sowohl eine Koordinierungsgruppe als auch spezifische Projekte, die jeweils unter dem Eindruck von Ereignissen und Kämpfen entstanden sind, die sie notwendig machten. Ich habe bereits EAST, PAAW und TMC erwähnt. Es gibt auch eine Initiative namens Climate Class Conflict (CCC), die während der Klimastreikwelle ins Leben gerufen wurde, um die Notwendigkeit hervorzuheben, die ökologische Dringlichkeit aus der Sicht der Beschäftigten anzugehen, in dem Wissen, dass, wenn diese Arbeitnehmer beispielsweise im Kohlebergbau beschäftigt sind, Widersprüche aufbrechen. Die Koordinierungsgruppe ist sowohl der Ort, an dem der Stand der jeweiligen Initiativen geteilt und kommuniziert, als auch der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden. Die Zusammensetzung der Initiativen variiert zwangsläufig aufgrund von unvorhersehbaren Ereignissen, Dynamiken von Kämpfen und der besonderen Situation lokaler Gruppen oder Kollektive. Die Zusammensetzung variiert auch, weil die physischen Treffen, die wir regelmäßig organisieren, neue Kräfte freisetzen, die zusätzliche Synchronisierungsarbeit erfordern, da nicht alle die gleichen Erfahrungen in der transnationalen Organisierung haben. In manchen Momenten – wie während der Pandemie – konnten wir in unseren lokalen Kontexten nicht wie gewohnt agieren, sodass der transnationale Raum, den wir als konsolidiertes Netzwerk zur Verfügung stellen konnten, viele neue Themen aufgriff, an denen – auch um die durch die Pandemie erzwungene Isolation zu überwinden – starkes Interesse bestand. Dasselbe geschah nach der russischen Invasion in der Ukraine, als wir eine Online-Versammlung ins Leben riefen, an der Hunderte von Genossinnen und Genossen aus Dutzenden von Ländern teilnahmen, und die PAAW ins Leben riefen. Einige sind geblieben, andere nicht, und diese Fluktuation ist sowohl unvermeidlich als auch eine Herausforderung für die Kontinuität unserer politischen Initiative. Bei Konflikten geht es nicht so sehr um die Funktionsweise interner Strukturen, sondern um politische Perspektiven und Organisierung. Die Gegensätze zwischen lokal und transnational, zwischen Diskurs und Aktion haben schwierige und wichtige Diskussionen in Gang gesetzt. Besonders kritisch war der Krieg in Palästina. Bereits seit Beginn des Krieges in der Ukraine weigerten sich Genossinnen und Genossen innerhalb der PAAW, die aufgezwungene Polarisierung der Kriegsfronten zu übernehmen, also sich entweder auf die Seite von Putins autoritärem Regime oder auf die Seite des neoliberalen Projekts der EU zu stellen. Stattdessen betonten wir, wie wichtig es ist, Beziehungen gegen den Krieg und über nationale Grenzen hinweg aufzubauen, zwischen Arbeiter:innen, Frauen, LGBTQ+-Personen und Migrant:innen. Trotzdem kam es nach dem 7. Oktober 2024 zu grundlegenden Widersprüchen, als jemand in die Logik des Krieges verfiel und behauptete, dass die bedingungslose Unterstützung der Menschen in Palästina und die Ablehnung des Krieges gleichbedeutend damit sei, alle Menschen in Israel als Kolonisatoren oder Feinde zu betrachten und die Hamas als den einzig möglichen und legitimen Widerstand zu betrachten. Dieser Streit beschäftigt ja in vielen Orten die lokalen Bewegungen. Sich ihm ohne Angst zu stellen, ist Teil der Schaffung einer gemeinsamen Perspektive, die notgedrungen Konflikte in sich trägt.
Noii: Unsere Hotline ist eine Art selbstorganisiertes Callcenter und auch die Koordination des Schichtsystems muss mit einigen zentralisierten Hilfsmitteln erfolgen. Aber die Übernahme von Schichten und deren Abdeckung rund um die Uhr hängt bereits von der dezentralen Verantwortung der lokalen Teams ab. Da wir in mindestens vier verschiedenen Regionen aktiv sind – Ägäis, zentrale Mittelmeerregion, westliche Mittelmeerregion/Atlantik und Ärmelkanal – sind wir mit sehr unterschiedlichen Bedingungen konfrontiert. Allein die Entwicklung der jeweiligen Alarmpläne – standardisierte Verfahren, wie in Notfällen zu handeln ist – ist sehr komplex. Wir müssen diese Arbeit notwendigerweise aufteilen und dezentralisieren. So sind diese Alarmpläne, aber auch Berichte, interne und externe Kommunikation, technische Fragen, Kontakte zu Behörden und Beziehungen zu Communities alles Lernprozesse mit Entscheidungen auf dezentraler Ebene. Auch in finanzieller Hinsicht werden maßgebliche Entscheidungen von den verschiedenen Arbeitsgruppen getroffen, und wir haben nicht eine einzige bezahlte Stelle. Unser Organigramm gleicht einer Art Labyrinth, aber gleichzeitig empfinden wir es als eine unserer Stärken: intern bei der Arbeitsteilung und extern, um nicht so anfällig für potenzielle Repressionen zu sein. Vor einigen Jahren haben wir darüber diskutiert, dass wir uns wie eine Hydra organisieren müssen. Wenn die Behörden versuchen, einen Kopf abzuschlagen, sollten zwei andere nachwachsen. Und inzwischen scheint unser Netzwerk sehr gefestigt zu sein, sodass wir auch die Fluktuationsprozesse gut händeln können. Natürlich kommen und gehen Leute in einem so großen Netzwerk mit etwa 300 Mitgliedern und so vielen Aufgaben. Wir versuchen, über die Notwendigkeit von Auszeiten zu diskutieren und darüber, wie wir gut damit umgehen können, wenn Freund:innen oder sogar komplette Teams pausieren oder ganz aufhören. Entscheidend scheint uns die Stabilität der jeweiligen Kerngruppen in den vier Regionen, in denen unsere Hotline aktiv ist.
– (8) Eure beiden Netzwerke verfolgen den Ansatz und den Anspruch, globale Hierarchien und Ungerechtigkeiten zwischen Süd und Nord zu überwinden oder zu untergraben. Was bedeutet das und wie funktioniert es in der Realität? Welche Schritte konnten bereits unternommen werden? Was sind die größten Probleme und Herausforderungen in Euren Strukturen und in Euren Plänen?
P.D.: Wir haben bereits unsere „Hinwendung nach Osten“ erwähnt, die die Organisation von Treffen nicht nur in Polen, sondern auch in Slowenien, Georgien und Bulgarien zur Folge hatte. Die politische Bedeutung dieser Neu-Ausrichtung bestand darin, Europa nicht aus dem „Zentrum“ seiner Regierungen – wie in Deutschland oder Frankreich – zu betrachten, sondern von seinen Rändern aus. Wir wollten – sowohl von innen als auch von außen – Europa nicht nur in institutioneller Hinsicht verstehen, sondern – was uns entscheidend erscheint – auch die transnationale Dimension neoliberaler Politik betrachten sowie die Art und Weise, in der Unterschiede in Bezug auf Löhne, Arbeitsbeziehungen oder rassistische und patriarchalische Hierarchien als Teil einer Gesamtorganisation von Produktion und Reproduktion entstehen. Wir haben auch Verbindungen zu türkischen und kurdischen Genossinnen und Genossen aufgebaut, weil wir die Rolle der Türkei im europäischen Grenzmanagement kennen und die Angriffe gegen das kurdische Volk im Zusammenhang mit dem Krieg oder mit sozialen Kämpfen wie der iranischen Bewegung „Frauen-Leben-Freiheit“ sehen. Einschränkend muss gesagt werden, dass sich diese Verbindungen oft entlang bestimmter Anlässe entwickeln, wie zum Beispiel dem Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention, der vor einigen Monaten die Initiative von EAST ausgelöst hat. Die Herausforderung besteht darin, diese Verbindungen über die Ereignisse hinaus zu festigen.
Noii:Unser AP-Treffen zum zehnjährigen Bestehen fand kürzlich, Anfang Oktober 2024, in Dakar statt. Es war uns praktisch und symbolisch wichtig, in den Senegal zu reisen, wo unser südlichstes Team aktiv ist. In der Regel treffen wir uns zweimal im Jahr mit 100 bis 150 Personen, und die meisten unserer Mitglieder aus dem Süden können kein Visum für die Teilnahme an Treffen im Norden erhalten. Daher findet eines dieser beiden Treffen im Süden statt. Dementsprechend hatten wir in den letzten Jahren mehrere Vollversammlungen und noch häufiger Arbeitsgruppentreffen in Tunesien und Marokko organisiert.
Einige unserer Mitglieder haben eigene Erfahrungen mit der Überquerung des Meeres. Und in den regionalen Gruppen sind die in Tunesien und Marokko lebenden Freund:innen für Updates, für Analysen und Sensibilisierung von entscheidender Bedeutung.
Wie bereits erwähnt, konnten wir gute Beziehungen zu Communities on the Move aufbauen und wir haben enge Verbindungen zu unseren Schwesterprojekten im oder aus dem Süden, zum Beispiel zum Alarm Phone Sahara in Niger, zu Boza Fii im Senegal oder zu Refugees in Libya. Darüber hinaus engagiert sich AP sehr stark im transnationalen CommemorAction-Netzwerk, in dem wir mit vielen Familien von Vermissten in Nord- und Westafrika zusammenarbeiten.
Obwohl all diese Bemühungen und Kooperationen die Herangehensweise und die Prioritäten von AP beeinflussen und verändern, wollen wir nicht so tun, als hätten wir bereits völlig gleichberechtigte Strukturen. Die Ressourcen und die damit verbundenen Privilegien, sich mehr Zeit zu nehmen, zu reisen und an vielen Treffen teilzunehmen, liegen noch eindeutig im Norden. Und die Teams in Europa sind zu selten gemischt zusammengesetzt, mit Mitgliedern mit und ohne Migrationserfahrung. Daher besteht unserer Meinung nach immer noch eine gewisse Dominanz des Nordens, obwohl in den genannten Strukturen die Entscheidungsfindung so dezentralisiert ist. Es handelt sich um einen fortlaufenden und permanenten Prozess der Reflexion und Veränderung unserer Strukturen.
— (9) Kämpfe verbinden! TSS spiegelt diesen Ansatz bereits in seinen Strukturen wieder, AP versucht, Räume für transversale Diskussionen zu schaffen. Wie fällt Eure bisherige Bilanz aus? Kommt es wirklich zu gegenseitigen Stärkungen? Oder eher zu Überlastungen in Bezug auf Komplexität und Kapazitäten?
P.D.: Natürlich beides! Manchmal – und einige der oben beschriebenen Erfahrungen sind Beispiele dafür – ist es uns gelungen, einen Raum zu schaffen, in dem Unterschiede zum Ausdruck gebracht werden konnten und dennoch Teil eines gemeinsamen Projekts und einer Initiative waren. Lokale Kämpfe, die ansonsten isoliert geblieben wären, konnten bekannter gemacht werden. Sie wurden diskutiert und zum Teil eines gemeinsamen Problems und Projekts. Aber jeder Erfolg erhöht die Komplexität und wirft neue Fragen und Herausforderungen auf. In der Tat sind die Zeiten, in denen wir leben, an sich schon komplex, die Fragmentierung organisierter Bewegungen war noch nie so grundlegend, auch aufgrund des Drucks des Krieges, und wir können keine einfachen Lösungen erwarten.
Noii:Das ist und bleibt eine schwierige Frage. AP war im vergangenen Jahr an mehreren größeren Treffen beteiligt, die inhaltlich über Flucht und Migration hinausgingen. 2019 und 2022 waren wir Teil der Transborder Sommer Camps, im Herbst 2021 haben wir die gleichzeitigen Zusammenkommen in Palermo und Dakar mitorganisiert. Bei all diesen Veranstaltungen war ein „transversaler“ Ansatz beabsichtigt und punktuell gab es sehr produktive Workshops, beispielsweise zu den Hintergründen der Migration, zur Situation in verschiedenen Herkunftsländern oder zu Migration und (migrantischer) Arbeit. Aber letztlich blieben diese Veranstaltungen vereinzelte Momente und führten nicht zu nachhaltigeren Strukturen, um Kämpfe zu vernetzen. Theoretisch sind sicherlich alle AP-Mitglieder von der Notwendigkeit themen-übergreifender Bemühungen überzeugt. In der Praxis geht dies jedoch oft in unseren Programmpunkten unter und vielleicht haben viele Freund:innen das Gefühl, dass diese Diskurse zu abstrakt bleiben, wenn wir nicht gleichzeitig effektive Praktiken entwickeln können. Und schließlich haben wir alle mit Kapazitätsproblemen zu kämpfen. Bei unserem letzten Treffen in Dakar haben alle AP-Mitglieder einiges mehr über die Realitäten und sozialen Kämpfe nicht nur im Senegal, sondern in mehreren Ländern Westafrikas erfahren. Die Herausforderung besteht darin, dass daraus mehr entstehen sollte als ein weiterer interessanter Moment des Austauschs.
Wir sehen eine nächste Chance in dem bereits erwähnten Transborder Sommer Camp im August 2025. Wir werden versuchen, bereits im Vorfeld, also in der Vorbereitungsphase, einen Prozess der Vernetzung von Kämpfen in Gang zu setzen und ihn dann auch im AP stärker zu verankern. Wir hoffen, dass die Plattform für den Transnational Social Strike dieses Vorhaben unterstützen und stärken wird.
Precarious Di∫connections (PD) Bologna
Precarious Di∫connections ist ein (Organisierungs)Raum für Männer und Frauen, prekär und nicht prekär, Migrant:innen und Italiener:innen, die die globale und allgemeine Situation der modernen Arbeitsverhältnisse als zentrales Thema ihrer politischen Intervention gewählt haben. Unser Ziel ist es, die Isolation und Spaltung der Beschäftigten zu durchbrechen, ausgehend von den Unterschieden, die sie zunächst trennen. Es geht darum, die globale Verbindung der „Figures of Precarity“ aufzuzeigen und von dort aus über Möglichkeiten des Kampfes nachzudenken, die dort ansetzen, wo es am stärksten trifft, d. h. dort, wo Kapital produziert und reproduziert wird.
Kontakt: info@connessioniprecarie.org
FF: facebook.com/Connessioniprecarie
Ig: instagram.com/connessioniprecarie
TSS-Website: transnational-strike.info
no one is illegal (noii) Hanau
Unsere Gruppe in Hanau ist seit Anfang der 1990er Jahre aktiv gegen Abschiebungen, für Bleiberecht und Bewegungsfreiheit. Seitdem bieten wir zweimal pro Woche eine unabhängige Beratung für Geflüchtete und Migrant*innen in einem lokalen besetzten Haus an und waren und sind an mehreren antirassistischen Kampagnen beteiligt. Wir haben 1997 das Netzwerk „kein mensch ist illegal“ mitgegründet und 1998 das noborder-Netzwerk, das Kampagnen gegen Abschiebeflüge und „noborder“-Camps in Grenzregionen quer durch Europa organisiert. Wir verfolgen einen transnationalen Ansatz und sind davon überzeugt, Infrastrukturen für Bewegungsfreiheit aufzubauen. Deshalb engagieren wir uns auch stark im Netzwerk „Welcome to Europe“ (siehe https://w2eu.info).
AP-Website: https://alarmphone.org/de/
Kontakt: kmii-hanau@antira.info
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